Mittwoch, 22. März 2017

Das Lügenmärchen von der Mittelschicht oder Wohlstand: Die Einkommen sinken und die Politik schaut zu!

Ein Skandal ohne Ende! Die Mittelschicht trägt die Lasten der Gesellschaft. Doch sie schrumpft, ihre Einkommen sinken. Die Statik der Republik droht zu kippen. Warum bleibt die Politik stumm? Ein Auto. Mehrmals im Jahr in den Urlaub fahren. Ein Haus im Grünen. Die Kinder studieren lassen. Für Viele nicht mehr möglich!

Das eigene Haus gehörte jahrzehntelang zum Lebensplan der Mittelschicht – heute wird der Traum immer beschwerlicher zur Realität.

Es sind Ziele wie diese, die den Lebensplan vieler Millionen Deutscher charakterisieren. Alle diese Ziele lassen sich unter einem Dach zusammenfassen: Die Menschen wollen einen Platz in der Mittelschicht. Zur Mittelschicht zu gehören war in der Bundesrepublik stets der Wunsch der Mehrheit. Aber - die Kinder werden es in Zukunft nicht mehr besser haben - trotz Studium ...

Und heute? 

Als die Agenda 2010 und "Hartz-IV" durchgebracht wurden, haben viele Bürger der Mittelschicht noch geglaubt, dass diese Reformen sie nicht betreffen würden -- schon gar nicht negativ. Man glaubte, es würde nur (vermeintliche) "Faule" und "Schmarotzer" treffen.

Im Jahre 2015 wurde berichtet, dass innerhalb von 10 Jahren schon mehr als 15 Mio. Menschen mindestens einmal von "Hartz-IV" betroffen waren. Viele haben wohl noch einige Jahre zuvor niemals damit gerechnet, selbst einmal betroffen zu sein: Arbeitslosigkeit, Aufbrauchen des Ersparten, Verlust der Miet- oder Eigentumswohnung, Verlust des Autos, "Sanktionen", Vermittlung in "Maßnahmen", Bewerbungskurse, 1-Euro-Jobs, Zeitarbeit und Jobs, die deutlich unter dem eigenen Qualifikations- und bisherigen Lohnniveau liegen.

Auch wer noch nie direkt von "Hartz-IV" betroffen war, spürt die Auswirkungen -- bis weit in die Mittelschicht: Lohnzurückhaltung, Angst um den Arbeitsplatz, Hinnahme von Lohnstagnation und sogar Lohnkürzungen, um den Job (für einige Zeit) zu retten, Akzeptanz schlechterer Arbeitsbedingungen usw.

Viele Mitbürger, die im Jahre 2005 noch über die "Reformen" gejubelt haben, sind mittlerweile sehr ruhig geworden.

Zusammenhalt der Gesellschaft

Die Mittelschicht ist und war der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhielt. Es gab ja einen Plan, dem die schlecht bezahlte Lehrzeit unter dem autoritären Chef folgte, die unübersichtlichen Unijahre, das Zurechtfinden in der Berufswelt: ein Platz in der Mittelschicht mit anständigem Einkommen. Für das Auto, den Urlaub, das Haus und die Kinder. Ohne bei kleineren Ausgaben ständig aufs Konto gucken zu müssen. Dafür lohnten sich die Mühen, der Einsatz im Beruf.

In den fünfziger Jahren rief der Soziologe Helmut Schelsky die Bundesrepublik zur "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" aus. Das kennzeichnete eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen Kapitalisten und Arbeitern nicht mehr so groß waren wie in den 150 Jahren der Industrialisierung davor. Der Aufstieg war möglich, Arbeiter konnten als Facharbeiter einen Platz in der Mittelschicht ergattern. Von der Mietskaserne mit Klo auf dem Gang in das Reihenhaus am Stadtrand. Dazu gehörte auf jeden Fall die Vorstellung, dass man besser leben würde als die eigenen Eltern. Und den eigenen Kindern sollte es noch besser gehen. 

Es gab Zeiten, da lohnte sich Leistung noch

Weil Aufstieg möglich war oder sogar wahrscheinlich, schuf dies eine nachhaltige Zufriedenheit mit dem Wirtschaftssystem der Bundesrepublik. Leistung lohnte sich ja. Die Arbeit im Betrieb genau wie das brave Bezahlen von Steuern und Sozialabgaben an ein anonymes Riesengemeinwesen, deren Gegenleistung eben nur indirekt zu spüren war. Die Mittelschicht war stets behaglich größer als in anderen europäischen Ländern, als in Großbritannien oder Italien. Dazu trugen vor allem zwei Faktoren bei, erkennen Gerhard Bosch und Thorsten Kalina von der Universität Duisburg-Essen: ein Sozialsystem, das die breite Mehrheit vor Risiken schützte, bis hin zum Alter. Und Flächentarifverträge, die nahezu alle Betriebe erfassten und so die Lohnunterschiede verringerten – schwächere oder weniger qualifizierte Arbeitnehmer profitierten von der Verhandlungsmacht der Stärkeren.

Abermillionen Deutsche hatten ein Ziel vor Augen, das sich realistisch erreichen ließ. Das bedeutete, traditionelle Klassengegensätze zwischen Kapitalisten und Arbeitern mussten nicht mehr so scharf gesehen werden. Das bedeutete im Vergleich zu gegensätzlicheren Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Italien mehr Wachstum, da weniger Streiks und andere Auseinandersetzungen. Es bedeutete sozialen Frieden, von dem alle profitierten, ganz besonders aber die Besitzenden. 

Und die Spirale geht weiter abwärts

Wer sich all dies vor Augen führt, registriert höchst besorgt, dass die Mittelschicht unter Druck geraten ist. Ihr Anteil an der Bevölkerung schrumpfte seit der Wiedervereinigung von 56 auf 48 Prozent, so die Forscher Bosch und Kalina. Damit ist sie nicht mehr die Mehrheit. Das DIW-Institut stellt mit einer etwas anderen Einteilung ein ähnliches Schrumpfen fest. Seit der Wiedervereinigung verschwanden zweieinhalb Millionen Deutsche aus der Mittelschicht. Die meisten stiegen ab.

Und nicht nur die Mittelschicht schrumpft, sondern auch das, was die Mittelschicht verdient. Zwischen 1983 und 2000 war ihr mittleres Einkommen um etwa 20 Prozent gestiegen. Auto, Urlaub, Haus im Grünen. Es ging ihr stetig besser als zuvor. Seit der Jahrtausendwende geht es ihr nicht mehr besser. Das Einkommen stagnierte. Insgesamt stagnieren die Reallöhne seit Langem. Selbst Akademiker und Fachkräfte, die sich nie als arm bezeichnen würden, sehen ihr Gehalt Monat für Monat dahinschwinden.

Um die Tragweite dieser Entwicklung einzuschätzen, muss man sich klarmachen, welche Rolle die Mittelschicht für die Bundesrepublik spielt. Wer ein mittleres Einkommen zwischen 2.700 und 8.000 Euro hat, gibt davon etwa die Hälfte als Steuern und Sozialabgaben ab. Die Hälfte, das ist gewaltig. Mittelschichtler bekommen anders als die Unterschicht wenige Sozialleistungen. Sie können anders als die Oberschicht kaum Steuertricks oder Vergünstigungen für Reiche nutzen. Die Mittelschichtler tragen die finanziellen Lasten der Gesellschaft. Ohne sie brechen Rentensystem und Krankenversicherung zusammen, ohne sie lassen sich keine Lehrer und Polizisten entlohnen. 

Der finanzielle Abstieg ist schon lange Realität

Die Mittelschicht hält die Gesellschaft nicht nur mit ihrem Geld zusammen, sondern auch mit ihrem Wahlverhalten. Sie ist mit ihrer bisherigen Präferenz für moderate Parteien das Fundament einer Demokratie, die Lösungen produziert statt Dauerstreit. Financier und Garant von Wachstum und Demokratie – wie kann es sein, dass die deutsche Politik zulässt, dass die Mittelschicht schrumpft und ihr Einkommen noch dazu?

Politik und Wirtschaft haben genau jene Mechanismen geschwächt, die die deutsche Mittelschicht nach Bosch und Kalina größer gemacht haben als sonst in Europa:

Ein Sozialsystem, das die breite Mehrheit vor Risiken schützt, bis hin zum Alter? Sozialleistungen wurden gesenkt. Auch wer einen Mittelschichtsverdienst von 8.000 Euro hatte, landet nach längerer Arbeitslosigkeit bei 400 Euro Hartz IV. Ältere rutschen wegen stagnierender Renten aus der Mittelschicht.

Flächentarifverträge, die nahezu alle Betriebe erfassen und so die Lohnunterschiede verringern? Nur 30 Prozent der Firmen zahlen Tariflohn, halb so viel wie vor zwanzig Jahren. Vollzeitstellen mutierten vielfach zu befristeten Jobs, Teilzeit- und Minijobs. Um wettbewerbsfähiger zu werden, verpflichteten die Firmen die geschwächten Gewerkschaften in den nuller Jahren zu Lohnzurückhaltung. Durch die Explosion des Niedriglohnsektors rutschten "Teile der mittleren Schicht relativ nach unten in der Hierarchie", schreibt das DIW.

Dazu kommt, dass die Politik Arbeitseinkommen weit stärker belastet als in anderen Industriestaaten. Millionäre zahlen auf ihre Kapitalerträge 25 Prozent Steuern. Mittelschichtler zahlen ab 4.500 Euro im Monat 42 Prozent Steuern. 

Qualifikationen und gute Bildung zählen nicht mehr

Dazu kommen die Privatisierungswellen bei Post, Müllentsorgung und Telefon, die Auslagerung früher beim Staat festangestellter Putzleute, Portiers oder Sicherheitskräfte. "Postboten hatten früher ein gutes Auskommen, konnten sich problemlos eine eigene Wohnung leisten", sagt IAB-Direktor Joachim Möller. "Vergleichen Sie das mal mit den gehetzten Paketboten von heute, die teils nicht viel mehr als 1.000 Euro verdienen."

Und dazu kommen auch noch Menschen wie Margret Meier, die wegen ihrer Kinder den Beruf hinten anstellten und darüber ihre Qualifikation verloren. Als technische Zeichnerin gehörte Meier zur Mittelschicht, mit ihren heutigen Hilfsjobs gehört sie längst nicht mehr dazu. Der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht von entwerteten Qualifikationen: "Jeder hat schon von Akademikern gehört, die einfachsten Bürotätigkeiten nachgehen oder von einer Facharbeiterin, die nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung irgendeinen Aushilfsjob macht, weil sie in ihrem erlernten Beruf nicht mehr Fuß fassen kann."

Angesichts dieser vielen Ursachen überrascht es nicht mehr, dass die Mittelschicht schrumpft. Es überrascht nur, dass die Politik dabei zusieht. Wenn die Mittelschicht schrumpft, wird zum Schaden der Wirtschaft weniger konsumiert. Es schrumpft die Gruppe, die gemeinhin stärker als die Unterschicht Vermögen bildet und deshalb Krisen übersteht, ohne auf den Sozialstaat angewiesen zu sein. Und das Problem ist noch fundamentaler: Wenn sich das Sehnsuchtsziel Mittelschicht, die Vorstellung vom immer besseren Leben als Illusion entpuppt, kippt die ganze Statik der Bundesrepublik. Denn die ist auf der Mittelschicht als Financier und Garant der Demokratie aufgebaut. 

Aufstieg und Fall der Älteren

Der finanzielle Abstieg ist schon lange Realität. Von den heute 81-Jährigen bis zu den heute 58-Jährigen funktionierte der Plan von einem immer besseren Leben. Diese Mittelschichtsmänner verdienten im Laufe ihres Berufslebens mehr als die vor ihnen Geborenen. Dann begann die Stagnation. Wer heute 57 oder 50 Jahre alt ist, verdient nicht mehr als ältere Arbeitnehmer. Wer unter 50 Jahre alt ist, verdient sogar weniger. Von wegen immer besseres Leben.

Auch der zweite Teil des Versprechens wackelt: Es ist schwieriger geworden, überhaupt in die Mittelschicht aufzusteigen. Manche Ausbildungsberufe wie Floristen, Friseure oder Verkäuferinnen sind heute so schlecht bezahlt, dass sie nicht mehr dazugehören. "Gerade in der Mitte der Gesellschaft brechen Stellen weg. In der Produktion durch Roboter, in der Verwaltung bei den Sachbearbeitern durch Computerprogramme", analysiert Ifo-Ökonom Ludger Wößmann. "Deshalb ist es schwerer als früher, von unten in die Mitte aufzusteigen. In den 60er Jahren holte man noch Gastarbeiter, um sie an die Maschinen zu stellen. Für Geringqualifizierte gab es früher noch Jobs, die gibt es heute nicht mehr. Die sind nach Asien abgewandert oder durch Roboter ersetzt worden." Die deutsche Gesellschaft ist weniger durchlässig geworden – jedenfalls nach oben.

Für Arme verringerten sich die Chancen auf einen Aufstieg beträchtlich, hat Dorothee Spannagel vom gewerkschaftsnahen WSI-Institut untersucht. Dagegen nahmen in der oberen und unteren Mittelschicht die Abstiegsrisiken zu. Vor allem aus der unteren Mitte steigen deutlich mehr Personen zu den Armen ab als in den 80er Jahren. Freuen können sich nur reiche Haushalte: Sie steigen seltener ab. 

Erstaunlicherweise begehren die Jüngeren nicht auf

Die Schaffung von Millionen Stellen seit den nuller Jahren hätte in früheren Zeiten die Mitte vergrößert. Doch das ist nicht geschehen. "Es ist erstaunlich, dass die Mittelschicht nicht zunimmt, obwohl der Arbeitsmarkt gut läuft", sagt DIW-Forscher Markus Grabka. Die Erklärung liegt auf der Hand: Wer in schlecht bezahlten Teilzeitjobs in der Dienstleistungsbranche hängenbleibt, steigt nicht mehr wie früher in die Mittelschicht auf.

Besonders frustrierend sind die Perspektiven für die Jüngeren. Jeder Dritte unter 35 hat einen Niedriglohnjob mit weniger als elf Euro die Stunde, aus dem der Mehrheit binnen fünf Jahren nicht der Aufstieg gelingt. In diesen Jobs verdienen sie 20 Prozent weniger als Gleichaltrige in den 80er Jahren. Damals gehörten noch 76 Prozent der 18- bis 30-Jährigen der Mittelschicht an. Inzwischen sind es nur noch 58 Prozent. Damit gerät der dritte Teil des Mitte-Versprechens ins Wanken, der die deutsche Gesellschaft seit der Nachkriegszeit zusammenhält. Nicht nur schrumpft die Mittelschicht, nicht nur ist der Aufstieg schwerer – die Mitte-Menschen fürchten auch mit guten Gründen, dass ihre Kinder es nicht besser haben werden als sie selbst. Sondern schlechter.

Da sind zum einen unsichere, schlecht bezahlte Jobs. Da ist zum anderen die Explosion der Immobilienpreise, die eine großzügige Wohnung oder ein eigenes Haus im Grünen zumindest in den Ballungsräumen unerschwinglich macht. Da ist zum Nächsten, dass eine schrumpfende Zahl junger Arbeitnehmer eine historisch große Zahl von Rentnern – die Babyboomer, ihre Eltern – finanzieren muss.

Erstaunlicherweise begehren die Jüngeren nicht auf. Vielleicht liegt das auch daran, dass das Verhältnis zwischen den Generationen besser geworden ist als zu den Zeiten, als Eltern autoritärer waren als heute. Auf jeden Fall bekommen viele Menschen Geld von ihren Eltern in einem Alter, in dem frühere Generationen stolz auf ihre Unabhängigkeit waren.

Mit den Sorgen der Jüngeren ist auch der letzte Teil des Mitte-Versprechens entwertet: Die Mittelschicht schrumpft, sie verdient weniger, der Aufstieg in die soziale und ökonomische Mitte fällt schwerer – und die Kinder werden es nicht besser haben. Diese multiple Enttäuschung ist politisch hochbrisant. Sie stellt infrage, ob die Mittelschichtler und die Aufstiegswilligen weiter engagiert arbeiten, brav Steuern und Sozialabgaben zahlen und somit die Gesellschaft tragen. Umso verwirrender ist, dass die Politik darauf keine Antworten findet.

Es gäbe eine ganze Menge Antworten: von mehr Chancen durch Bildung über eine Entlastung von Steuern und Sozialabgaben über bessere Löhne bis zu mehr Unterstützung für Familien.

Doch die Politik bleibt stumm. Ihre Stummheit wird sich rächen. Nein, falsch: Dieser Prozess ist längst in vollem Gang. 

Der Allrounder fragt sich: Ist soziale Ungerechtigkeit ist in Deutschland vom Volk gewollt, anders sind die Wahlergebnisse nicht zu erklären? Wenn eine Gesellschaft 20 Jahre in Folge SPD/CDU wählt und dann über soziale Ungerechtigkeit klagt, kann ich das nicht ernst nehmen. Wählt doch einfach sozialere Parteien. Aber wen?

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